Rede von Philip Zeschmann in Textform:
Herr Abg. Dr. Zeschmann (BVB/FW):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen Abgeordnete! Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Maßnahmen sind schon jetzt gravierend. Sie treffen besonders die Schwächsten in unserer Gesellschaft – darüber haben wir heute schon einiges gehört -: Kinder, Jugendliche, Familien sowie ältere Menschen. In vielen Branchen bricht der Konsum zusammen; sie sind geschlossen worden und öffnen jetzt schrittweise wieder. Viele Bereiche der Wirtschaft stecken in einer Rezession und viele Selbstständige und kleine und mittlere Unternehmen, auch Kultureinrichtungen, in einer existenzbedrohenden Situation – so im Wesentlichen auch die Lagebeschreibung der Einbringer für diese Aktuelle Stunde. Dort heißt es weiter:
„Jetzt muss uns der Balanceakt zwischen geringen Infektionsraten und der Gestaltung einer wünschenswert neuen Normalität gelingen.“
Aber wir sollten die heutige Debatte vielleicht auch einmal zum Anlass nehmen, uns unter dieser Überschrift nicht im Klein-Klein zu verfangen – wie ich es in der Diskussion heute leider oft mitbekommen habe -, wir sollten auch nicht darüber streiten, welche Maßnahmen jetzt aufrechterhalten werden müssen, welche Lockerungen notwendig sind und ob diese einen Tag früher oder später enden oder kommen sollen.
Die Einbringer haben zu Recht in ihrem Text eine Frage aufgeworfen, nämlich welche Lehren wir aus der Erfahrung der letzten Wochen ziehen, wie wir zukünftig leben wollen und welche Chancen wir für unsere Gesellschaft vielleicht damit eröffnen können.
Über die Veränderungen in unserem Alltag hinaus – wie Abstand zu halten und Hygieneregeln einzuhalten – sollten wir auch etwas tiefer darüber nachdenken, welche Branchen nach den Erfahrungen in dieser Krise in Deutschland als systemrelevant angesehen werden müssen und welche Konsequenzen das dafür hat, gegebenenfalls bestimmte Branchen in Deutschland vorzuhalten oder vorhalten zu müssen. Wer entscheidet darüber? Was wollen wir uns das kosten lassen? Wie soll das finanziert werden?
Ebenso müssen wir die Diskussion weiterführen, wie die Arbeit in diesen Branchen attraktiv gemacht werden kann, damit es dort ausreichend viele und gut motivierte Mitarbeiter und auch Auszubildende gibt. Geht das allein über bessere Bezahlung oder auch mit einer mitarbeiterfreundlichen Organisation der Arbeit, insbesondere im Schichtbetrieb? Auch das wird in jedem Fall mehr Geld kosten, und hier müssen wir uns natürlich auch wieder die Frage stellen, was wir uns das kosten lassen und wie wir das finanzieren wollen.
Dann sind wir auch schon beim Gesundheitswesen. Kann beispielsweise unser Gesundheitssystem wirklich weiterhin auf Dauer ausschließlich über Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer finanziert werden? Oder muss nicht diese Last der Finanzierung auf alle Schultern verteilt werden – womit wir bei der lange schon und oft diskutierten Thematik Bürgerversicherung sind?
Überhaupt müssen wir uns angesichts der aktuellen Erfahrungen wohl auch die Frage stellen, ob die Finanzierung unseres Gesundheitswesens über Fallpauschalen und bis zur Schmerzgrenze auf Effizienz getrimmt noch die richtige Organisationsform ist. Wäre hier nicht wieder der Mensch, wären nicht seine Gesundheit und am Ende sein und unser aller Leben in den Mittelpunkt zu stellen? Auch das wird wieder mehr kosten; auch da müssen wir uns fragen, wie wir das organisieren wollen, was wir uns das kosten lassen wollen und wie wir es finanziert bekommen.
Aufgrund der Erfahrungen bei der sogenannten Soforthilfe für Solo-Selbstständige und Kleinstunternehmen sowie – wie jetzt auch in den Medien zu vernehmen war – bei den 450-Euro-Jobbern, die zuerst unter die Räder kommen, zeigt sich, dass in diesen Bereichen offensichtlich eine fehlende Absicherung gegeben ist. Da stellt sich dann die Frage nach der Grundsicherung für alle in einem ganz neuen Licht. Wäre es nicht viel einfacher – und
am Ende auch nicht teurer -, wenn die Vielfalt von verschiedensten sozialen Hilfen, wie Kindergeld, Elterngeld, Wohngeld, Sozialhilfe, die Hilfe zum Aufstocken bei niedrigen Gehältern, das Kurzarbeitergeld, zusammengefasst würden und ohne überbordende Antragsflut und -bearbeitung an jedermann in Form einer Grundsicherung ausgezahlt würden? Darüber sollten wir einfach einmal nachdenken.
Ein letzter Punkt: Ist die über die letzten 30 Jahre anhaltende, vielleicht einseitige Orientierung auf eine immer weiter zunehmende Internationalisierung der Warenströme und Produktionsketten, Verflechtungen am Weltmarkt und damit immer größere Abhängigkeiten vom freien Welthandel – und damit von der Welt – ohne wirklich große Krisen nicht übertrieben? Dürfen wir weiterhin unser wirtschaftliches Handeln auf eine immer weitere Optimierung der Ressourcenallokation und damit ein unbedingtes Trimmen auf maximale Effizienz ausrichten? Es gibt viele Menschen, die sagen: „Der Mensch ist hier verloren gegangen.“ Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir das ändern und ob wir vielleicht wieder stärker zu regionalen Kreisläufen zurückkommen können. Dann aber müssen wir auch sehen: „Regionale Kreisläufe“ hört sich schön an, bedeutet aber auch, dass wir zu höheren Preisen und möglicherweise zu sozialen Ungerechtigkeiten kommen, weil die Menschen sich dann bestimmte Dinge gar nicht mehr leisten können.
Jetzt komme ich zum Schluss: Sollten wir nicht Corona zum Anlass nehmen, über die von uns vorgenommene Ausgestaltung unserer Welt auch in einigen grundlegenden Punkten neu nachzudenken, etwas zu verändern und unsere Welt besser zu machen? – Danke schön.